Extinction Rebellion

Eine Rebellion für das Leben

Extinction Rebellion (XR) wurde im Mai 2018 in Großbritannien gegründet. Es entwickelte sich aus der Kampagne Rising Up!, die von drei Einzelpersonen ins Leben gerufen wurde. Mittlerweile gibt es lokale Gruppen in über 70 Ländern. Die wichtigsten Prinzipien von XR sind Gewaltfreiheit, Dezentralität und die Autonomie der einzelnen XR-Gruppen. Sie führen hauptsächlich Aktionen durch, die mit Mitteln des zivilen Ungehorsams arbeiten.

Im Herbst 2018 wurden die fünf größten Brücken in London von 6.000 Menschen blockiert. Auf diesen Rebellionstag folgten regelmäßig weitere Rebellionstage sowie -wochen in Großbritannien und in vielen anderen Ländern. Mit ihren Aktionen will XR Aufmerksamkeit auf die Klimakatastrophe sowie auf das damit verbundene Massenaussterben lenken und so die Politik zum Handeln bewegen.

Das Interview ist im Herbst 2019 mit einer Person aus der österreichischen XR-Gruppe geführt worden.


Was ist Extinction Rebellion? Und warum gibt es XR eigentlich?

Da gibt es verschiedene Antworten: die offizielle und meine persönliche Antwort. Die offizielle – und das ist auch die, die am einfachsten verstanden wird – ist, dass XR eine politische Bewegung ist. Sie versucht Menschen ihre Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und sie mit der Wahrheit, mit dem was jetzt gerade hier auf diesem Planeten passiert, zu konfrontieren. Sie versucht zu zeigen, wie bedrohlich die Situation ist, aber eben auch zu sagen: „Ihr könnt da was machen. Ihr habt voll die Macht.“

Eigentlich ist es eine Rebellion und keine politische Bewegung. Eine Rebellion denkt nicht in diesem klassischen: „Wir müssen jetzt kämpfen“. Die Rebellion gegen das System, in dem wir uns jetzt befinden, ist etwas komplett Neues und voll Liebevolles. Sie versucht mehr als nur politisch zu sein. Für die politische Arbeit braucht es Gemeinschaftsarbeit und individuelle Arbeit und das versuchen wir alles in einer Bewegung zu integrieren.

Das zeigt sich auch in dem, wie XR gegründet worden ist. Das war ein Innehalten und Schauen, was es jetzt gerade braucht. Irgendwie scheint es so, dass in der Vergangenheit vieles nicht funktioniert hat. Wir versuchen, so viel wie möglich davon zu lernen. Wir versuchen Dinge, die überall

passieren, anzuschauen, zu sehen, wo wir was raus nehmen können und dann kreieren wir etwas Neues draus. Das reicht von Organisationsmodellen bis hin zu emotionaler Arbeit und Gruppenprozessen oder Aktionsformen.

Und die persönliche Antwort ist, dass XR das faszinierendste Bildungsprogramm ist, was ich je gesehen hab. Ich komme selber aus der Bildung und merke, wie viel mehr da in XR weitergeht. In XR hab ich ein Jahr mit Menschen verbracht und hab mich jeden Tag damit beschäftigt, wie wir radikal emanzipatives, politisches Organisieren leben können. Innerhalb von ein paar Wochen merkte ich, wie ermächtigt Menschen sind. Und das nur durch ein paar kleine Schritte, die ihnen zeigen, wie sie etwas gegen Dinge tun können gegenüber denen sie sich ohnmächtig fühlen.

Wenn du auf das letzte Jahr zurückschaust – was war eure Hauptaktivität? Wo ist am meisten Zeit rein geflossen?

Sehr viel Zeit ist in die Arbeit innerhalb der Gruppe gegangen. Eines der Hauptthemen, über das wir viel reflektiert und mit dem wir viel erprobt haben, ist die regenerative Kultur. Und die Frage, wie regenerative Kultur in so einer Zeit der Dringlichkeit, mit so viel (Zeit-)Druck, gelebt werden kann, beschäftigt uns viel. Wir versuchen mit dem, wie wir miteinander umgehen, schon eine neue Welt zu kreieren. Und das ist voll anstrengend, weil die Leute, die in diese Bewegung kommen, sich viel mit dem, was in der Welt passiert, beschäftigen und so bringen sie auch viel Frust und so viel Schmerz mit.

In der regenerativen Kultur organisieren wir Räume, wo das Platz hat. Das sind gehaltene4 Wohlfühlräume, wo alles willkommen ist. Da kommt dann so viel raus. Die Leute sind mit so viel Herz dabei. Das irgendwie zu halten und zu schauen, dass wir gute Lösungen finden, wenn Konflikte aufkommen – das braucht viel Zeit und Anstrengung. Es ist aber auch sehr rewarding.

Kannst du genauer erklären, was ihr unter regenerativer Kultur versteht?

In der Bewegung gibt es verschiedene Verständnisse von regenerativer Kultur. Für manche Menschen ist es die Regeneration nach unseren Aktionen. Die Momente, wenn wir uns verausgaben, Pausen brauchen und uns nehmen.

Für mich ist es… Der Start dieser Bewegung kommt von einem Punkt, wo wir alle mit unglaublichen Verletzungen und Schmerzen belastet und beeinflusst von einem toxischen System sind. Bei der regenerativen Kultur geht es darum, dass diese ganzen toxischen Dinge heilen. Wir sind uns der toxischen Dynamiken bewusst und versuchen eine Kultur zu kreieren, wo wir der Konkurrenz, der Gier, dem Misstrauen und auch dem Hass und den Anschuldigungen, die wir mitbringen, versuchen entgegenzuwirken.

Wir wollen Räume schaffen, wo diese toxischen Dynamiken nicht bzw. weniger passieren. Das beginnt mit so Basics, dass bei Treffen Menschen einfach Menschen sein können. Wir starten immer mit einem Check-in, wo wir schauen, wie es allen geht. Ich weiß, dass das auch viele andere Gruppen machen. Gleichzeitig laden wir die Leute ein zu teilen, wofür sie gerade dankbar sind. Wir erinnern uns damit daran, dass wir uns dieser Sache gemeinsam stellen. In dem Kreis sitzen wir nicht alle für uns alleine, wir müssen das nicht alleine schaffen, sondern tun gerade gemeinsam diese Dinge.

Das war gerade am Anfang sehr viel Arbeit, diesen Check-in solange zu integrieren, bis ihn alle Menschen verstanden haben. Da kann man verschiedene Methoden verwenden, wie z.B. im Kreis gehen [Anm. reihum reden], was wir sehr viel gemacht haben, und was neue Leute zuerst als voll ineffizient gesehen haben. Wir verwenden dabei den way of council: Du sitzt in diesem Kreis und wirst darum gebeten, der Gruppe zu vertrauen, dass aus dem Kreis das kommt, was wichtig ist. Wenn du selbst dran bist, schaust du, was bei dir gerade dran ist und was du jetzt zu diesem Kreis beitragen willst. Wenn du nichts beitragen willst, hörst du zu.

Die Leute merken dann, dass andere Menschen Sachen sagen, die sie sagen wollten und dass das okay ist. Sie merken, dass sie sich nicht stressen und sofort einbringen müssen. Die Leute, die normal nicht so viel sagen, fühlen sich voll gehört. Viele Leute versuchen das dann auch in ihrer Familie einzubringen.

Ein weiterer Teil sind Konflikte und die Einladung zur Perspektive, dass sie uns helfen und wir aus ihnen lernen können, wenn wir auf sie zugehen. Ich sag das alles mit einem: „Wir versuchen das“. Das ist die Idealversion und es klappt nicht alles immer. Wenn ein Konflikt passiert, ist es zuerst einmal wichtig ihn anzuerkennen. Er ist okay, er darf da sein.

Bei einem großen Konflikt in diesem Sommer haben wir einfach alle Leute, die Teil dieses Konflikts waren, eingeladen. Zuerst wollten wir uns eigentlich nur zwei Stunden nehmen, aber dann haben wir uns einen ganzen Tag genommen. Einen ganzen Tag – einfach, um einander zuzuhören. Und das

war es. Wir haben gefragt, wer wem was sagen will. Wir verwenden da die Methode von Restorative Circles, die Dominik Barter entwickelt hat.

Es ist beeindruckend, was es alles für tolle Formen gibt, um mit diesen Dingen umzugehen. Leute arbeiten da Jahrzehnte daran, um das zu entwickeln und wir haben dann diese unglaublichen Ressourcen. Wir können diese Leute fragen, wie wir das am gescheitesten machen, und sie helfen uns dabei.

Dann gibt es noch verschiedene Arten der Moderation, die dabei helfen, gute Räume zu schaffen. Es ist so viel an Wissen da und dabei stellt sich dann auch die Frage: Wer hat dieses Wissen? Wie können wir mehr Leuten in der Bewegung helfen, diese Dinge zu lernen und diese Räume zu halten? In diesem Bereich passiert auch sehr viel.

Wie kommt dieses Wissen in die XR-Gruppen?

Das ist auch etwas, was die Bewegung wirklich gut gemacht hat: Handbücher. Es gibt wirklich tolle Handbücher. Die ersten zwei Monate in XR waren wie ein Studium für mich. Ich hab davor schon viel Bildungsarbeit gemacht,

aber dann hab ich die Handbücher durchgelesen und da sind viele Dinge, die ich schon länger gelernt habe, sehr gut zusammengefasst.

Außerdem gibt es regelmäßige Coachings und Trainings. Das ist das, was ich vorher meinte mit XR ist das größte Bildungsprogramm. Allein wie oft es… Jede Woche gibt es international und in Österreich Talks und Trainings zu verschiedenen Themen – von Aktionstrainings über Dekolonialisierung und Gewaltfreiheit bis hin zu Regenerative Kultur 101. Darin sind verschiedene Dinge integriert, z.B lernen die Leute, wie sie eine Entscheidung zusammen treffen können. Bei diesen Dingen, wie den Moderationsprozessen, sind wir in Österreich noch sehr in den Anfangsstadien. Wir hatten aber schon zwei Workshops zu Moderation und Macht-Themen und einen ganzen Tag mit Miki Kashtan und dem NGL Team. Da waren 20 Leute von uns dabei und haben über diese neuen Wege mit Macht in der Gruppe und mit Feedback umgehen gelernt. Das ist ein Wahnsinn. Miki Kashtan macht alle zwei bis drei Wochen ein Coaching, wo alle Leute von XR mitmachen können. Das passiert in einer Art Konferenz-Call. Das ist z.B. etwas, wo ich das Gefühl habe, dass wir es in Österreich noch nicht genug gemacht haben. Die Leute, bei denen das Wissen ist, müssen das intern weitergeben. Da kann man auf jeden Fall noch ein paar gute Workshops machen.

Das Basistraining für alle ist ein sogenanntes DNA-Training von XR. In dem Training wird gezeigt, was unsere zehn Prinzipien und Werte bedeuten. Zu jedem dieser Werte wird ein Beispiel genannt. Wenn wir z.B. sagen, dass wir uns dem toxischen System stellen (eines der zehn Prinzipien), dann gibt es das auch in uns. Wir machen dann eine Übung dazu. Wie ist das z.B., wenn ich zu einer Idee, die eine Person mit mir teilt, nein sage? Wie fühlt sich das an? In einer Übung probieren wir aus, wie es ist, wenn ich die ganze Zeit „Nein“ höre. Das ist voll basic, aber für viele Leute ist es etwas total Neues. Viele Menschen merken erst dann, dass es sehr unangenehm ist, dauernd ein Nein zu hören und dass man damit vielleicht achtsam umgehen muss.

Wie ist bei euch das Verhältnis von Arbeit im Inneren der Gruppe und im Wirken nach außen?

Das weiß ich nicht genau. Für mich vermischt sich das. Persönlich ist für mich der Fokus auf Gemeinschaftsaufbau. In der Bewegung selbst ist der Fokus eher auf dem Wirken nach außen.

Der Grund, warum die Aktionen dann so gut laufen und Menschen mit so einem Spirit da sind ist, weil diese ganze andere Arbeit davor passiert ist. Und weil das Kernteam, die Menschen, die jetzt in den ganzen verschiedenen Arbeitsgruppen aktiv sind, ein paar Monate in diesen Gruppenprozess investiert und voll viel persönliche Arbeit gemacht haben. Also eigentlich spiegelt sich dann der Gemeinschaftsaufbau in der ganzen Arbeit und in den Aktionen wider. Und im Endeffekt wurden die Aktionen eigentlich alle ziemlich kurzfristig geplant. Das können wir, glaube ich, auch noch besser machen.

Eigentlich wäre die Idee, dass es drei verschiedene Bereiche in der Bewegung gibt: der [interne] Bewegungsbereich, der politische Bereich und der Aktionsbereich. Also der politische Bereich ist die Medien-, Vernetzungs-, und Positionierungsarbeit. Dann würde ein Drittel der Menschen nur Aktionen machen.

Gibt es Grundelemente, die bei jeder Aktion vorkommen?

Bezugsgruppen und der Aktionskonsens. Und es gibt keine Aktionen ohne Leute, die sich für das Wohlbefinden der Menschen, die in der Aktion beteiligt sind, verantwortlich fühlen. Auch wenn es ein Die-in ist – mittlerweile eine ziemliche Standard-Aktionsform – sind da Leute, die schauen, ob es jedem gut geht und Kekse und Getränke dabei haben. Also Care-Personen.

Außerdem gibt es Legal Observer. Das sind Leute, die nicht für Soziale Medien filmen, sondern für den Fall, dass irgendwelche Eskalationen

passieren. Dabei geht es nicht nur um Polizeibeamte, sondern auch um Passant:innen. Einfach, dass man schaut, damit wir abgesichert sind. Aber auch wenn bei uns etwas passiert, dass wir das nachverfolgen können.

Dann gibt’s lauter Elemente des zivilen Ungehorsams, die wir versuchen in der Aktionsplanung zu berücksichtigen. Was ist die Symbolik? Inwieweit stört das? Wollen wir, dass das stört? Inwieweit sind die Leute bereit sich selbst durch diesen zivilen Ungehorsam aufzuopfern? Das sind die Elemente, die aus der Theorie kommen, die wir dann in die Planung einfließen lassen. Es gibt kaum Aktionen, die nicht symbolischen Wert haben und sehr wenige Aktionen, die nicht stören. Das muss jetzt nicht den Verkehr stören sein, aber z.B. ein Die-in in einem Shopping Center stört den normalen Ablauf. Und das ist eins der Ziele.

Wo und wie werden bei XR Entscheidungen getroffen?

Keine Ahnung [lacht]… Auf voll vielen Ebenen. Es wurde dieses selbstorganisierende System entwickelt, dass auf Holokratie und Soziokratie aufgebaut ist. Das heißt eigentlich, dass der Großteil der Mandate und der Entscheidungsbefähigungen so breit wie möglich verteilt ist.

Das heißt, was bei den Aktionen passiert, wird in der Aktionslogistikgruppe entschieden. Der Rahmen für die Aktionen wird von einer Strategiegruppe vorgeschlagen. Die haben aber nicht das Mandat, um diese Dinge zu entscheiden, sondern nur dafür sie vorzuschlagen. Damit wird den anderen Leuten ein Rahmen gegeben, wo sie sagen: „Schau, das ist mal unser strategischer Vorschlag – aber im Endeffekt macht ihr die Aktion.“

In diesen Gruppen wird mit Konsent gearbeitet. Das heißt, es werden Einwände zu den Vorschlägen abgefragt. Wenn das Gefühl da ist, dass das überhaupt notwendig ist.

In einem Kreis – dem Ankerkreis –, wo Leute von allen verschiedenen Arbeitsgruppen zusammenkommen, wird die Gesamtarbeit von XR koordiniert. Die haben auch sehr wenig eigene Entscheidungsmacht. Diese Leute sind hauptsächlich zum Informationsaustausch da, und – das ist ein wichtiger Unterschied zu Entscheidungen treffen – zum Feedback- Einholen. Das heißt, wenn die Aktionsgruppe eine Idee vorstellt, wird dort dann zusammengetragen, was das Medienteam und das regenerative Kulturteam dazu sagt.

Dann macht die Aktionsgruppe aber trotzdem selber die Entscheidung. Also wir treffen nicht gemeinsam Entscheidungen in dem Ankerkreis. Das ist mal die nationale bzw. die lokale Ebene. Dann gibt’s noch eine internationale Ebene, die ziemlich verwirrend ist. Aber dort gibt es auch ein ähnliches Prinzip.

Ich beneide das internationale Team überhaupt nicht, weil sie dauernd mit so viel Kritik zu tun haben. Im Endeffekt gehen die herum und fragen so viele Leute wie möglich: „Was haltet ihr von dem Vorschlag?“ Und dann versuchen sie eine Entscheidung zu treffen, die für alle passt. Oder für so viele Leute wie möglich. Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, was ihr Mandat ist.

Und bei uns in Österreich ist es halt auch so, dass wir manche Sachen eigentlich noch nicht so machen. Das heißt wir haben schon ein nationales Treffen und wir fragen dann in diesem Treffen ab, ob es Einwände gibt. Wir sagen, dass wir noch nicht bereit sind und diesen Organismus noch nicht so weit entwickelt haben, dass so viel Vertrauen da ist, dass wir selbst die Entscheidungen treffen.

Wir machen einen Strategievorschlag, z.B. zur Rebellionswoche. Dann können von Leuten oder auch auf unserer Chat-Software Einwände oder Feedback kommen. Wir bitten vor allem um Feedback. Und das ist auch die Kultur, die wir verändern wollen. Wir wollen nicht die Kritik hören und was daran falsch ist, sondern wir wollen hören, wie Menschen es anders machen würden. Wir wollen nicht sagen, dass wir keinen Dissens haben wollen, wir wollen auch hören, wenn Menschen ein Problem mit einem Vorschlag haben. Wir wollen eine neue Kultur schaffen, wo Leute nicht die ganze Zeit „Nein“, sondern „Ja, und…“ sagen. Oft könnten wir unsere Kritik eigentlich so sagen. Das heißt nicht, dass manchmal ein Nein nicht voll wichtig ist. Es ist auch wichtig. Und das passiert auch manchmal. Und das

ist dann voll anstrengend und dann müssen wir da durch. Aber das kann man auch lernen.

Das hört sich so an, als ob viel Verantwortung bei Einzelpersonen liegt. Stimmt das?

Es sind eigentlich kaum Einzelpersonen, die Entscheidungsverantwortung tragen. Es sind schon Gruppen. Oft. Also so, wie es jetzt bei uns in der Praxis funktioniert.

Theoretisch wären es aber schon – wenn es sich weiterentwickelt – auch Einzelpersonen, die Entscheidungen treffen. Bei großen Entscheidungen gilt aber das Basisprinzip: Triff keine Entscheidung, bevor du nicht mit drei Leuten drüber geredet hast. Von diesen Menschen ist wahrscheinlich eine Person nicht einverstanden mit dir. Das ist so der Leitfaden, der mitgegeben wird.

Gibt es bei XR ein allgemeines Plenum, wo alle Menschen zusammenkommen?

Nein – und unser Plenum, das wir mal hatten, war auch kein Entscheidungsorgan. Es war ein kulturvertiefendes, gemeinschaftsstärkendes Treffen und Informationsaustausch. Darum ging es im Plenum.

Jetzt ist die Idee, das mit einem Gemeinschaftstreffen zu ersetzen. Plenum ist für Leute ein bisschen irreführend. Wenn sie ein Plenum erwarten, dann treffen sie da Entscheidungen. Wir haben gemerkt, dass das nicht zusammenpasst.

Was die Leute in einem Plenum machen ist, dass sie rein kommen und alle gemeinsam eine Entscheidung treffen wollen. Das hat sich für voll viele Menschen voll komisch angefühlt. Die haben gesagt, dass sie jetzt da gar nicht mitentscheiden wollen. Das ist eigentlich voll entlastend, wenn du das sagst.

Z.B. wie wir unsere Chats ablegen. Wenn du dann der Gruppe einfach sagst: „Entscheidet ihr, wie ihr die Chats ablegt. Sucht euch von zwei, drei Leuten ein Feedback oder, wenn ihr wollt, fragt in die große Runde, wer mit der Idee einverstanden ist und mithelfen möchte. Und wer nicht damit einverstanden ist und ob diese Leute kurz mit euch darüber reden möchten, wieso sie nicht einverstanden sind. Oder ihr könnt euch separat was mit Menschen ausmachen, wo du es dann nicht mit 40 oder mehr Leuten besprechen musst.“

Mit so vielen Leuten kannst du kaum noch ein Treffen zusammen abhalten, wo du konstruktiv über irgendetwas redest. Sogar in den Arbeitsgruppen haben wir uns dann nochmal aufgeteilt, weil Leute gemerkt haben, dass die Arbeitsgruppen zu groß geworden sind. Dann entstehen diese kleine Gruppen von drei bis vier Leuten, die dann für bestimmte Projekte zuständig sind. Mehr Leute wird schon schwer. Und das ist alles ein ziemliches Chaos. Also es stimmt schon, es passiert wirklich alles so, aber voll chaotisch, weil sich die Leute halt erst dran gewöhnen müssen.

Du hast am Anfang die Handbücher erwähnt. Woher kommen die? Oder habt ihr die selbst entwickelt?

Es kam voll viel aus England, weil die so viele Ressourcen hatten. Das System, auf dem unsere Organisation jetzt basiert, kommt aus Deutschland. Das wurde dort ins Deutsche übersetzt.

Die Leute, die dieses Handbuch entwickelt haben, schicken das dann zu uns rüber. Meist waren diese Personen dann auch hier bei uns, beim nationalen Treffen, und haben mehrere Tage mit den Leuten, die die Umsetzung übernehmen, verbracht und alles erklärt. Das ist ein Prozess, so ein Handbuch zu starten.

Es kann jeder ein Handbuch schreiben eigentlich, also jeder darf das. Es ist schon praktischer, wenn jemand wirklich zuständig ist. Aber sonst tut sich das eh keiner an. Das ist ja ganz schön viel Arbeit.

Könntet ihr hier in Österreich auch etwas ganz anders machen als England? Oder gibt es da bestimmte Vorgaben?

Wenn es sowas wie eine Vorschrift gibt, dann den Aktionskonsens. Alles andere ist so wie das Wissen, das in der Organisation mit der Zeit immer weiter verfeinert wird: Wir reflektieren nach jeder Aktion und schauen, ob das eigentlich funktioniert hat. Wir machen in Österreich einige Dinge anders als alle anderen Leute, weil wir anders begonnen haben und andere Realitäten haben. Wir dürfen eigentlich alles, was auch den Werten und den Prinzipien von XR entspricht.

Das ist dieser Spielraum, der manchmal auch zu Konflikten führt, weil dann auch Leute manchmal sagen: „Hey, was ihr da gemacht habt, passt gar nicht.“ Und das ist wertvoll. Ich hab z.B. an den DNA-Trainings teilgenommen. Die wurden in England entwickelt. Mir hat das nicht gefallen und hab mich dann mit Leuten aus Deutschland, die das auch machen und das weiterentwickeln wollen, zusammengetan. Und jetzt haben wir ein eigenes, ein neues DNATraining.

Jetzt können wir da Feedback nach England geben und sagen: „Schau, das sind die Übungen, die wir rein gebracht haben.“ Das schicken wir dann quasi zurück, wenn wir die Zeit dafür haben, daran denken und es gescheit machen. Und dann können die sagen: „Hey, voll interessant.“ Außer es war jetzt gar nicht so wie sie das wollten, was hoffentlich nicht der Fall ist.

Ich höre von XR immer, dass ihr so viele Menschen wie möglich erreichen wollt. Und, dass 3,5 % aller Menschen ausreichen, um wirklich etwas zu verändern. Kannst du das und die Strategie, die dahinter steht, ein bisschen genauer erklären?

Das basiert auf einer Recherche, die Erica Chenoweth und Maria Stephan gemeinsam gemacht haben. Die haben sich angeschaut, wie viel Partizipation du in der Bewegung auf verschiedenen Ebenen brauchst, damit du den gesellschaftlichen Wandel erreichst. Soweit ich weiß ist diese Zahl zwischen 1,5 % und 3,4 %. Außerdem brauchst du die Zustimmung von 50 % der Bevölkerung oder zumindest Leute, die das irgendwie befürworten, was du machst. Also die Hälfte der Bevölkerung. Wenn du das erreichst, werden sogar Diktaturen überworfen.

Ich glaube, es hat auf jeden Fall eine Auswirkung darauf, wie wir das Ganze angehen. Einerseits brauchen wir voll viele Menschen, aber wir brauchen nicht alle. Du musst nicht jeden ansprechen. Du musst nicht jemand, der dich auf der Straße voll angeht, überzeugen. Ich muss nicht jeden überzeugen. Das ist voll wichtig. Das schaff ich auch nicht. Das schafft niemand. Es tut gut, dass es diese zwei Seiten gibt.

Gleichzeitig macht es auch klar, was wir brauchen. Wenn wir wirklich diesen Wandel erreichen wollen, dann brauchen wir ungefähr 2-3 % der Bevölkerung, die sagen: „Wir machen da mit. Wir wollen das auch und sind bei XR aktiv.“ Wenn wir das nicht schaffen, dann… Also ich glaub persönlich auch nicht daran, dass wir das schaffen, wenn wir diese Bevölkerungszahl erreichen. Wir haben so was Riesiges vor. Mit dem ‚Wir‘ meine ich jetzt nicht XR, sondern die ganzen Menschen, die am Wandel arbeiten. Wir haben so was Riesiges vor, da reichts nicht, wenn wir mit weniger Menschen daher kommen.

Was für eine Strategie verfolgt ihr, um so viele Menschen zu erreichen?

Wie funktioniert es so viele Menschen zu erreichen? Da gibt es voll die coole Methode: Momentum Driven Organising nennen wir das. Es ist schon länger her, dass ich mich damit beschäftigt hab. Es geht darum, wie und was Leute eigentlich mobilisiert. Da haben Menschen einiges an Recherchen gemacht. Auch darüber, was die Leute davon abhält aktiv zu werden.

Die Gruppe, die XR gegründet hat, Rising up!, die haben z.B. auch den Rent Strike organisiert. Die Mieter:innen haben aufgehört Miete zu zahlen. Das haben sie gemacht, indem sie die Leute gefragt haben: „Würdet ihr das machen, wenn das alle anderen auch machen?“ Dann ist es auf einmal voll hochgeschossen.

XR verfolgt auch eine ähnliche Strategie. Wir fragen die Leute als Teil einer Massenaktion des zivilen Ungehorsams: „Würdet ihr euch verhaften lassen?“ Es ist unglaublich, wie viele Leute dafür bereit sind. Das entsteht mit dem Vertrauen, dass da eh auch andere Leute sind, mit denen ich das zusammen mache. Das ist so ein Element. Das andere ist, dass Aktionen Leute motivieren und Leute aktivieren. Wenn sie was machen können. Und wenn sie sich wohl fühlen.

Das ist auch etwas, was diese Handbücher sagen: „Schaut, dass bei den Treffen Essen da ist. Dann kommen die Leute.“ Und es wird immer geschaut, dass es irgendwie weitergeht. Du kommst nicht zu XR und dann wird monatelang geredet. Wahrscheinlich kommst du zu XR und in der nächsten Zeit ist eine Aktion. Dann kannst du deine erste Aktion machen. Dann kannst du eine Bezugsgruppe bekommen. Und dann könnt ihr euch in der Bezugsgruppe eine eigene Aktion ausdenken. Du hast die Freiheit etwas zu tun.

Es ist schon ein sehr essentielles Element, dass eine Handlung folgt und die Leute die Möglichkeit haben, Sachen zu tun. Viele Leute kommen und die wollen am ersten Tag schon nichts reden, sondern gleich tun. Das wollen wir auch nicht. Wir wollen schon eine Reflexion, dass sich die Leute damit auskennen und wissen, worum es geht.

Und die Dezentralität ist total wichtig. Ohne dem wäre die Bewegung nie so riesengroß geworden. Die letzten paar Wochen sind ein super Beispiel in Österreich: Innsbruck und Graz. Die schauen sich eins von diesen Handbüchern an und machen jetzt eine XR-Gruppe. Die können dann sagen, dass sie gerne Leute hätten, die vorbeikommen und mit ihnen Trainings machen. Sie können auch wirklich ganz alleine ihre eigene Gruppe anfangen.

Da muss man schon über dieses Misstrauen „Ihr kennt euch ja nicht aus“ rüberkommen. Aber so haben wir ja auch begonnen. Und da musst du Vertrauen haben. Wir haben halt vor ein paar Monaten damit begonnen, uns diese ganzen Sachen durchzulesen, uns damit zu beschäftigen und haben dann genauso gestartet. Dadurch sind auf der ganzen Welt diese Gruppen entstanden. Das ist riesig! Wir sagen den Leuten z.B. aus Mödling und Meidling: „Wenn du dort keine Leute findest, dann starte eine Gruppe. Du musst nicht immer nach Wien reinkommen.“

Mit welchen anderen Gruppen arbeitet ihr zusammen? Und welche Kriterien entscheiden, ob ihr mit einer Gruppe zusammenarbeitet oder eben auch nicht?

Als XR… Also in Österreich habe ich schon das Gefühl, dass eine Bereitschaft für Zusammenarbeit da ist. Aber es sind viele Fragen da: „Wie wollen wir zusammenarbeiten?“ Da sehen wir jetzt z.B., dass unsere Werte und Prinzipien vielleicht nicht mit dem, wie andere Gruppen arbeiten, übereinstimmen. Und gleichzeitig ist mit den meisten Leuten, mit denen wir zusammenarbeiten wollen, zum Großteil eine Übereinstimmung da.

Ich glaub, dass diese Zusammenarbeit vor allem noch nicht so viel stattfindet wegen mangelnden Kapazitäten. Wir sind komplett an der Grenze damit uns selbst zu organisieren. Wenn wir zu schnell mit anderen Gruppen zusammenarbeiten, stellt sich die Frage: „Was ist eigentlich unsere Identität?“ Und die wollen wir nicht verlieren, weil an dieser Identität ist schon etwas Wichtiges dran. Das heißt nicht, dass wir uns voll wegdrücken wollen von den anderen. Sicher gibt es Gruppen, mit denen wir nicht zusammenarbeiten würden. Ich weiß jetzt auch nicht, was es bringen würde, irgendwelche Gruppen aufzuzählen. Aber es gibt sicher einige.

Eins, was schon passiert, ist: dass wir Sachen vermieden haben, wo wir irgendwo reinfallen. Da wollen wir im Moment noch ein bisschen vorsichtig sein. Das ist auch das Thema, wo XR sagt: „Wir wollen jetzt nicht sofort ganz links rein, weil wir uns nicht auf dem politischen Spektrum so verorten wollen.“ Das ist voll automatisch passiert. Am Anfang noch natürlich mit viel mehr Anspruch. Da war dann die Frage: „Wollen wir die ganze Zeit auf Podien mit sehr linken Gruppen sein?“ Was macht das mit der Bewegung, wenn wir nur linke Gruppierungen ansprechen? Das ist eigentlich das, was wir nicht als Bewegung wollen. Sondern wir wollen ein bisschen breiter sein. Sonst ist das auch nicht mehr ansprechend. Wir wollen einfach nicht im politischen Spektrum drinnen sein. Das heißt auch, dass wir nicht unbedingt mit Parteien zusammenarbeiten wollen. Und auch, was ich da jetzt gesagt hab, das ist keine fixe Linie und da ist mit der Zeit auf jeden Fall auch eine Entwicklung. Z.B. in England, was ich von der letzten Rebellion mitbekommen hab, da passiert Unglaubliches an Kooperationen. Das war nicht nur von XR, sondern da machen viele andere Gruppen mit.

Von Deutschland bekomme ich mit, dass es da mit den Kooperationen teilweise Probleme gibt. Aber da gibt es auch schon ein bisschen mehr als bei uns. Obwohl wir ja auch einen Aktionstag mit Ende Geländewagen zusammen gemacht haben. Also es ist jetzt nicht so als wäre da nichts.

Fragen zur Einordnung von Extinction Rebellion:
  • Wie würdest du das Verständnis von gesellschaftlicher Machtverteilung der Gruppe Extinction Rebellion beschreiben?
  • Was würdest du als die Hauptstrategie von XR beschreiben? Was als die Haupttaktik?
  • Wo siehst du Unterschiede zwischen dem politischen Verständnis von XR und jenem ‚klassischer‘ linker Bewegungen oder Umweltgruppen?
  • Wen siehst du als Zielgruppe von Extinction Rebellion? Wen adressiert XR mit ihren Aktionen?
Fragen zum Weiterdenken in deiner Gruppe:
  • Welche Vorteile seht ihr bei der Entscheidungsfindung von XR im Vergleich zu eurer Gruppe? Welche Nachteile?
  • Habt ihr Handbücher, Trainings-Manuale oder andere formalisierte Formen der Wissensweitergabe? Warum habt ihr euch dafür bzw. dagegen entschieden?
  • Gibt es in eurer Gruppe etwas, was ihr als regenerative Kultur bezeichnen würdet? Welchen Stellenwert hat das in eurer Gruppe und warum?
  • Könntet ihr euch vorstellen mit XR zusammenzuarbeiten? Warum (nicht)?