Kompass der Macht

Wo liegt Macht und wie verändern wir ihre Verteilung?

Wenn wir gesellschaftliche Veränderungen anstreben, geht es meist darum, bestehende Machtgefüge zu verändern. Macht bezeichnet die Abhängigkeit bzw. Überlegenheit von einer Person oder Gruppe gegenüber anderen. Das heißt konkret, dass die Machthabenden ohne Zustimmung oder sogar gegen den Widerstand von anderen ihre eigenen Ziele durchsetzen können.

Macht kann von verschiedenen Gruppen und Institutionen, wie Staaten, Parteien und der Kirche, aber auch von Individuen oder von abstrakten Konstrukten, wie gesellschaftlichen Normen und Werten, ausgeübt werden.

Macht zeigt sich laut der Machtbasentheorie von French und Raven (1960) in vier verschiedenen Formen:

  • Legitimation: Menschen lassen sich leicht(er) beeinflussen, wenn sie glauben, dass die machtausübende Person ein Recht dazu hat. Diese Legitimation zur Machtausübung kann durch Wahl, Rechtsprechung, Normen oder Vereinbarung geschaffen werden.
  • Belohnung und Zwang: Macht kann durch Belohnung (materiell, finanziell oder emotional) oder Zwang und Bestrafung durchgesetzt werden.
  • Identifikation: Macht kann über die Identifikation mit Machthabenden erwirkt werden, deren Erwartungen mensch erfüllen möchte.
  • Wissen: Durch zugeschriebenes oder tatsächliches Wissen oder Können wird die Meinung gewisser Menschen mehr gewichtet, wodurch sie Macht über andere ausüben können. Außerdem kann Macht durch die Steuerung und Manipulation von Informationsflüssen angewendet werden. Die folgende Aufstellung soll einen ersten Überblick darüber geben, wo sich in unserem aktuellen Gesellschaftssystem Macht manifestiert und welche Strategien es gibt, um Machtverteilung zu verändern.

Die Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll als eine Art grobes Raster zur Orientierung dienen – also so etwas wie ein Kompass für die unübersichtlichen Gewässer der Macht sein.

Generell unterscheide ich zwischen Ansätzen, die im bestehenden System agieren und dieses versuchen zu verändern, und Ansätzen, die das aktuelle System zur Gänze ablehnen und darauf abzielen, ein neues (Gesellschafts-) System zu schaffen.

Innerhalb der beiden Ansätze differenziere ich zwischen je drei Hauptaspekten. Auf der nächsten Seite findet ihr eine visuelle Darstellung der verschiedenen Ansätze, welche darauffolgend näher besprochen werden.

Wenn wir das bestehende System verändern wollen, gibt es drei Hauptansatzpunkte:

  • die Zusammensetzung oder Handlungsweisen von politischen Entscheidungsträger:innen verändern
  • die Handlungen von Menschen in machtvollen Positionen – durch Besitz oder mit Entscheidungsmacht über große Finanzmittel, Ressourcen oder andere Machtinstrumente, – Firmen sowie Institutionen beeinflussen und verändern
  • die (Mehrheits-)Gesellschaft mit ihren Normen, Werten und Glaubenssätzen verändern

Diese Machtkontexte unterscheiden sich in ihrer Struktur und Logik, womit sich auch die Taktiken und Strategien unterscheiden, mit denen wir diese Machtkontexte jeweils verändern können. Wenn wir ein neues System schaffen wollen, gibt es ebenfalls drei Ansatzpunkte:

  • das bestehende System schwächen
  • das bestehende System als Ganzes abschaffen
  • alternative Systeme aufbauen

Die verschiedenen Ansatzpunkte können separat, als Kombination oder als aufeinander folgende Schritte betrachtet werden. Zur besseren Veranschaulichung werden sie hier nur einzeln betrachtet.

Das bestehende System verändern

politische Entscheidungsträger:innen
  • Druck ausüben
    Dies kann sowohl auf direktem als auch indirektem Weg passieren. Ein klassischer, direkter Weg ist Lobbyismus, also Entscheidungsträger:innen kontaktieren und versuchen, direkt von dem jeweiligen Anliegen zu überzeugen. Bekannt ist diese Praxis vor allem durch große Firmen, die gleiche Herangehensweise kann aber auch von Individuen oder politischen Gruppen genutzt werden. Ein indirekter Weg Druck auf Entscheidungsträger:innen auszuüben ist der Ausdruck von Meinungen und Interessen in Form von Petitionen oder Demonstrationen. Hierbei wird versucht, den Entscheidungsträger:innen deutlich zu machen, dass eine große Anzahl von Menschen hinter einem bestimmten Anliegen steht. Gleichzeitig kann mediale Aufmerksamkeit erzeugt und damit ein Diskurs über das Thema angeregt werden. Weitere Wege Medienaufmerksamkeit zu erlangen sind bspw. ziviler Ungehorsam und andere kreative Aktionsformen. Auch wissenschaftliche Studien und investigativer Journalismus, mithilfe dessen bspw. Skandale wie Korruptionsaffären aufgedeckt werden, kann Druck auf Entscheidungsträger:innen ausüben.
  • zum Handeln zwingen
    Dies kann entweder direkt durch Klagen oder Gesetze oder indirekt durch Instrumente wie Volksentscheide geschehen. Politische Entscheidungsträger:innen wie Bundes- und Landesparlamentsmitglieder und Minister:innen sind allerdings immun, das heißt vor Strafverfolgung geschützt. Diese Immunität kann aber auf Antrag bei der jeweils zuständigen Behörde (in Deutschland z.B. der Bundestag bei Bundestagsabgeordneten) aufgehoben werden. Der:die Bundeskanzler:in und die Regierungsmitglieder unterliegen sowohl in Deutschland als auch in Österreich nicht der Immunität – außer sie sind gleichzeitig Abgeordnete. Über Volksentscheide können Gesetze bzw. Gesetzesänderungen erzwungen werden (siehe auch Exkurs S.90).
  • Zusammensetzung verändern
    Durch Wahlen können Menschen direkt darauf einwirken, wer zu den politischen Entscheidungsträger:innen gehört. Außerdem kann mit Kampagnen oder über die Verbreitung bestimmter Informationen über Parteien und/oder Entscheidungsträger:innen die Wahlentscheidung von anderen Menschen beeinflusst werden (indirekte Einflussnahme).
  • selbst Entscheidungsträger:in werden
    Eine weitere Möglichkeit ist sich selbst zur Wahl zu stellen, um Entscheidungsträger:in zu werden.
mächtige Personen
  • Druck ausüben
    Dies kann direkt oder indirekt geschehen. Ein direkter Weg ist z.B. der Boykott von bestimmten Produkten oder Firmen. Außerdem kann über eine direkte Aktion wie eine Straßenblockade oder eine Demonstration auf bestimmte Akteur:innen Druck ausgeübt werden. Ein indirekter Weg Druck auszuüben ist auf individueller Ebene ein ethisches Konsumverhalten zu verfolgen, wie bspw. der Verzicht auf Plastik oder Palmöl. Eine kollektive Herangehensweise ist die Informierung von Konsument:innen über die umweltzerstörerischen oder sozial nicht vertretbaren Praktiken eines Unternehmens. Dies kann z.B. durch Infostände oder aber auch über Zeitungen und andere Medien erreicht werden.
  • zum Handeln zwingen
    Dies kann entweder direkt durch Klagen sowie Gesetze oder indirekt über die Verschiebung von Marktmacht passieren. Die Verschiebung von Marktmacht kann bspw. durch die Veränderung der öffentlichen Meinung über das produzierte Gut geschehen. Im Extremfall wird das betreffende Produkt oder das ganze Unternehmen boykottiert, sodass ein finanzieller Zwang entsteht und das Unternehmen sein Handeln verändern muss, um weiter zu bestehen.
  • selbst in machtvolle Positionen kommen
    Es kann auch selbst oder kollektiv versucht werden in machtvolle Positionen zu gelangen, bspw. durch den Aufbau eines großen Unternehmens oder die Ausübung einer Leitungsposition in einem solchen. Die damit einhergehende Macht kann dann genutzt werden, um Dinge zu verändern. Außerdem kann mensch durch Erbe oder andere familiäre Beziehungen sowie durch Heirat Zugang zu machtvollen Positionen erlangen.
(Mehrheits-)Gesellschaft
  • hegemonial werden:
    Hier setzen sich bestimmte eigene Ideen, Normen oder Werte in der Gesamtgesellschaft durch. Dies kann z.B. dadurch entstehen, dass sie für alle erstrebenswert sind oder erscheinen. Sprache und Framing, also die Darstellung von Sachverhalten, sodass sie die gewollte Botschaft transportieren, spielen hierbei eine große Rolle. Außerdem können positive Vorbilder bspw. bestimmte, in der Öffentlichkeit stehende Personen wie Greta Thunberg, hier einen starken Einfluss auf die Meinungsbildung haben.
  • viele werden:
    Hier gibt es zahlreiche Strategien. Die Grundidee ist, dass sich die Werte oder Normen der gesamten Gesellschaft ändern, sobald mensch die gefühlte oder tatsächliche Mehrheit bildet. Laut Erica Chenoweth (2012) reichen im Schnitt 3,5% der Bevölkerung, die sich aktiv beteiligen, damit Proteste erfolgreich sind.

Ein neues System schaffen

das bestehende System schwächen
  • effektive, direkte Aktionen/Sabotage
    Im Gegensatz zu symbolischen Aktionen wie dem zivilen Ungehorsam, der hauptsächlich über mediale Aufmerksamkeit Wirkung erreicht, zielt die direkte Aktion und Sabotage mehr auf die unmittelbare Schädigung von Firmen oder Institutionen ab.
    Bei der Sabotage werden Maschinen, Infrastruktur, Gebäude oder anderes Eigentum beschädigt oder zerstört. Das Ziel ist dabei entweder finanziellen Schaden und damit eine generelle Schwächung von Firmen oder Institutionen zu erreichen oder direkt Ursachen für Klimazerstörung (bspw. durch die Besetzung eines Kohletagebaus oder einer Baustelle für den Bau einer neuen Autobahn) anzugreifen. Sabotage kann außerdem auch in Form von Einsatz gegen Menschenrechtsverletzungen (bspw. durch die Verhinderung von Abschiebeflügen) geschehen. Im Umweltbereich wird Sabotage als „Ecotage“ bezeichnet.
    Effektive, direkte Aktionen zielen im Vergleich zu Sabotage meist mehr auf die Störung von Betriebsabläufen und auf finanzielle Schäden ab. Ein Beispiel dafür ist das Aufhalten von Kohletransportzügen, was die Versorgung eines Kohlekraftwerks verzögert.
  • Propaganda der Tat
    In diesem Konzept sollen Handlungen und Aktionen mit Vorbildcharakter beeindrucken, Menschen aufrütteln und damit zu Sympathie und Nachahmung führen. Begründet wurde das Konzept durch den italienischen Revolutionär Carlo Pisacane und den russischen Anarchisten Michail Bakunin (siehe Bakunin 1870). Den Begriff Propaganda der Tat prägte Paul Brousse (1877), ein französischer Sozialist, der auch einen Zeitungsartikel darüber verfasste. Darin forderte er, dass mensch neben der theoretischen Verbreitung von anarchistischen Ideen auch praktisch zeigen müsse, was mensch erreichen mag – durch die Propaganda der Tat.
    Oft wird dieser Ansatz mit anarchistischen Attentaten verbunden, allerdings distanzierten sich viele Anarchist:innen von diesen individuellen Taten.
    Beispiele aus der neueren Zeit für die Propaganda der Tat sind Hausbesetzungen und Diebstähle als Handlungen der Enteignung oder Umverteilung von Eigentum.
das bestehende System abschaffen
  • Umsturz/Revolution
    Das bestehende System wird in diesem Ansatz praktisch von einem Moment auf den anderen oder in einer sehr kurzen Zeitspanne abgeschafft. Die bisher Herrschenden werden abgesetzt und ein neues System etabliert. Diese Entwicklung kann sowohl friedlich als auch gewaltvoll erfolgen. Nicht geglückte Revolutionen werden meist als Aufstände bezeichnet.
  • Transformation
    Im Gegensatz zur Revolution läuft der Prozess der Transformation über einen längeren Zeitraum ab. Oft wird der Begriff Transformation mit Reformation verwechselt. Reformation bezeichnet allerdings eine angestrebte Verbesserung des bestehenden Systems, wohingegen es bei der Transformation um einen fundamentalen Veränderungsprozess geht, an dessen Ende ein neues System steht.
Alternativen aufbauen
  • von der individuellen Ebene ausgehend
    Menschen leben alternative Lebensweisen vor, dadurch werden mehr Menschen inspiriert. So entsteht ein neues System vom Individuum ausgehend.
  • kollektiv
    An Orten wie Ökodörfern oder Kommunen wird gemeinsam alternatives Leben ausprobiert. Sie sind damit im Kleinen schon eine neue Gesellschaft und entwickeln Konzepte, die sich (potentiell) auf die gesamte Gesellschaft übertragen lassen. Klimacamps oder Festivals können temporär auch kollektive Orte der Alternativen sein. Wachsen und multiplizieren sich diese Orte, können sie mehr und mehr das bestehende System ersetzen.
  • systemisch
    Systemische Ansätze für Alternativen sind bspw. Solidarische Landwirtschaften. Hier werden für bestimmte Teile des aktuellen Systems, wie die Versorgung mit Lebensmitteln, alternative Systeme aufgebaut. Menschen müssen dafür nicht an einen bestimmten Ort in eine Gemeinschaft ziehen. Die Idee ist, dass damit Stück für Stück problematische Teile des bestehenden Systems ersetzt werden.

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